Eine Eisenbahn aus Zellen

Schnappschüsse der Mobilfunkbahn. Zellen erstrecken sich von einer Fischschuppe (links) über künstliche Bahnen (rot) und bilden Züge (Mitte) unterschiedlicher Größe (rechts). Bildnachweis: Vercurysse, Brückner et al./Nature Physics

Unter dem Mikroskop bewegt sich eine Gruppe von Zellen langsam in einer Linie, wie ein Zug auf den Gleisen. Zellen navigieren durch komplexe Umgebungen. Ein neuer Ansatz von Forschern des Austrian Institute of Science and Technology (ISTA) zeigt nun, wie ihnen das gelingt und wie sie miteinander interagieren. Die experimentellen Beobachtungen und das folgende mathematische Konzept sind veröffentlicht in Natürliche Physik.

Die meisten Zellen im menschlichen Körper können sich nicht bewegen. Einige spezifische können jedoch an unterschiedliche Orte gehen. Während der Wundheilung beispielsweise bewegen sich Zellen durch den Körper, um beschädigtes Gewebe zu reparieren. Sie reisen manchmal alleine oder in Gruppen unterschiedlicher Größe.

Obwohl dieser Prozess zunehmend verstanden wird, ist wenig darüber bekannt, wie Zellen während der Reise interagieren und wie sie gemeinsam durch die komplexen Umgebungen des Körpers navigieren. Ein interdisziplinäres Team aus theoretischen Physikern des Österreichischen Instituts für Wissenschaft und Technologie (ISTA) und Experimentatoren der Universität Mons in Belgien verfügt nun über neue Erkenntnisse.

Ähnlich wie bei Experimenten zur sozialen Dynamik, bei denen es einfacher ist, die Interaktionen einer kleinen Gruppe von Menschen zu verstehen, als eine Gesellschaft als Ganzes zu analysieren, haben Wissenschaftler das Bewegungsverhalten einer kleinen Gruppe von Zellen in einer genau definierten In-vitro-Umgebung untersucht. also außerhalb eines lebenden Organismus, in einer mit Innenelementen ausgestatteten Petrischale. Basierend auf ihren Erkenntnissen entwickelten sie einen Rahmen für Interaktionsregeln.

Zellen reisen in Zügen

David Brückner eilt in sein Büro, um seinen Laptop zu holen. „Ich denke, es ist das Beste, einige Videos unserer Erlebnisse zu zeigen“, sagt er und drückt die Wiedergabetaste.

Das Video zeigt eine Petrischale. Mikrostreifen – eindimensionale Bahnen, die die Zellbewegung steuern – sind neben einer aus vielen Zellen bestehenden Zebrafischschuppe auf das Substrat gedruckt. Spezielle Heilzellen, sogenannte „Keratozyten“, beginnen sich von der Schuppenschicht auszudehnen und Verzweigungen in den Bahnen zu bilden.

„Die Zellen haften zunächst durch Klebemoleküle auf ihrer Oberfläche aneinander, als würden sie sich an den Händen halten“, erklärt Brückner. Plötzlich bricht die Bindung und die Zellen sammeln sich in kleinen Gruppen und bewegen sich wie Züge auf Schienen.

„Die Länge des Zuges ist immer unterschiedlich. Mal sind es zwei, mal sind es zehn. Das hängt von den Ausgangsbedingungen ab.“

Eléonore Vercurysse und Sylvain Gabriele von der Universität Mons in Belgien beobachteten dieses Phänomen, indem sie Keratozyten und ihre Heilungseigenschaften innerhalb verschiedener geometrischer Muster untersuchten. Um ihnen bei der Interpretation dieser rätselhaften Beobachtungen zu helfen, kontaktierten sie die theoretischen Physiker David Brückner und Edouard Hannezo vom ISTA.

Zellen haben Rüschen

„In jeder Zelle gibt es einen Gradienten, der bestimmt, wohin die Zelle geht. Das nennt man ‚Polarität‘ und ist wie das Steuerrad der Zelle“, erklärt Brückner. „Zellen übermitteln ihre Polarität an benachbarte Zellen und ermöglichen ihnen so, sich gemeinsam zu bewegen.“ Doch wie sie dies erreichen, bleibt auf diesem Gebiet ein großes Rätsel.

Brückner und Hannezo begannen nachzudenken. Die beiden Wissenschaftler entwickelten ein mathematisches Modell, das die Polarität einer Zelle, ihre Wechselwirkungen und die Geometrie ihrer Umgebung kombiniert. Anschließend übertrugen sie das Framework in Computersimulationen, die ihnen dabei halfen, verschiedene Szenarien zu visualisieren.

Eine Eisenbahn aus Zellen

Inspiration an der Tafel. Edouard Hannezo (hinten) und David Brückner (vorne) denken über mathematische Gleichungen nach. Sie nutzen eine der vielen Tafeln, die es auf dem gesamten ISTA-Campus gibt, um spontanen Ideen freien Lauf zu lassen und sie auszutauschen. Bildnachweis: ISTA

Als erstes untersuchten die österreichischen Wissenschaftler die Geschwindigkeit der Zellzüge. Die Simulation ergab, dass die Geschwindigkeit der Züge unabhängig von ihrer Länge ist, unabhängig davon, ob sie aus zwei oder zehn Zellen bestehen.

„Stellen Sie sich vor, wenn die erste Zelle die ganze Arbeit erledigen würde, würde die Gesamtleistung sinken, wenn sie die anderen hinter sich herzieht“, sagt Hannezo. „Das ist aber nicht der Fall. In Zügen sind alle Zellen in die gleiche Richtung polarisiert. Sie sind in ihrer Bewegung ausgerichtet und synchronisiert und bewegen sich reibungslos vorwärts.“ Mit anderen Worten: Die Züge verfügen über einen Allradantrieb und nicht nur über einen Frontantrieb.

Im nächsten Schritt untersuchten die Theoretiker in ihren Simulationen die Auswirkungen einer Vergrößerung der Breite von Bahnen und Zellclustern. Im Vergleich zu Zellen, die sich in einer einzelnen Datei bewegten, waren Cluster viel langsamer. Die Erklärung ist ganz einfach: Je mehr Zellen gruppiert sind, desto häufiger kollidieren sie. Durch diese Kollisionen werden sie relativ zueinander polarisiert und bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen. Die Zellen sind nicht richtig ausgerichtet, was den Bewegungsablauf stört und die Gesamtgeschwindigkeit erheblich beeinflusst. Dieses Phänomen wurde auch im belgischen Labor beobachtet (In-vitro-Experimente).

Sackgasse? Kein Problem für Zellcluster

Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz scheint die Bewegung in Clustern nicht ideal zu sein. Das Modell prognostiziert jedoch, dass dies auch Vorteile hat, wenn sich Zellen über komplexes Gelände bewegen, wie es beispielsweise im menschlichen Körper der Fall ist. Um dies zu testen, fügten die Wissenschaftler sowohl in den Experimenten als auch in den Simulationen eine Sackgasse hinzu.

„Die Zellzüge geraten schnell in die Sackgasse, haben aber Schwierigkeiten, die Richtung zu ändern. Ihre Polarisierung ist gut abgestimmt und es fällt ihnen sehr schwer, sich auf einen Richtungswechsel zu einigen“, erklärt Brückner. „Viele Zellen sind im Cluster bereits in die andere Richtung polarisiert, was einen Richtungswechsel deutlich erleichtert.“

Züge oder Cluster?

Natürlich stellt sich die Frage: Wann bewegen sich Zellen in Gruppen und wann in Zügen? Die Antwort ist, dass beide Szenarien in der Natur beobachtet werden. Beispielsweise basieren einige Entwicklungsprozesse darauf, dass sich Gruppen von Zellen von einer Seite zur anderen bewegen, während andere darauf basieren, dass sich kleine Zellzüge unabhängig voneinander bewegen.

„Unser Modell lässt sich nicht nur auf einen einzelnen Prozess anwenden. Vielmehr handelt es sich um einen allgemein anwendbaren Rahmen, der zeigt, dass die Platzierung von Zellen in einer Umgebung, die geometrischen Einschränkungen unterliegt, sehr aufschlussreich ist, weil sie dadurch herausgefordert wird und wir es uns ermöglichen, ihre Wechselwirkungen untereinander zu entschlüsseln.“ “, fügt Hannezo hinzu.

Ein kleiner Zug voller Informationen

Aktuelle Veröffentlichungen der Hannezo-Gruppe legen nahe, dass die zelluläre Kommunikation in Wellen verläuft, einem Zusammenspiel zwischen biochemischen Signalen, körperlichem Verhalten und Bewegung. Das neue Modell der Wissenschaftler liefert nun eine physikalische Grundlage für diese Zell-Zell-Interaktionen und hilft möglicherweise dabei, das Gesamtbild zu verstehen.

Basierend auf diesem Rahmen können Mitarbeiter tiefer in die molekularen Akteure eintauchen, die an diesem Prozess beteiligt sind. Laut Brückner können die Verhaltensweisen dieser kleinen Zellzüge uns helfen, großräumige Bewegungen zu verstehen, wie sie beispielsweise in ganzen Geweben beobachtet werden.

Um grundlegende Prozesse beispielsweise in den Bereichen Neurowissenschaften, Immunologie oder Genetik besser zu verstehen, ist der Einsatz von Tieren in der Forschung unerlässlich. Keine andere Methode, etwa In-Silico-Modelle, kann eine Alternative bieten. Die Aufzucht, Haltung und Behandlung der Tiere erfolgt nach den strengen Vorschriften der jeweiligen Länder, in denen die Forschung durchgeführt wird.

Mehr Informationen:
Migrationseffizienz basierend auf der Geometrie autonomer Epithelzellcluster, Natürliche Physik (2024). DOI: 10.1038/s41567-024-02532-x

Bereitgestellt vom Österreichischen Institut für Wissenschaft und Technologie

Zitat: Eine Eisenbahn der Zellen: Computersimulationen erklären die Zellbewegung (19. Juni 2024), abgerufen am 19. Juni 2024 von https://phys.org/news/2024-06-railroad-cells-simulations-cell-movement html

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By rb8jg

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